Reviews

Frank Carter & The Rattlesnakes und „Sticky“: „I miss Hardcore Frank“

Seit Juli gibt es in Großbritannien kaum noch Corona-Vorschriften für Veranstaltungen. Und wenn dann auch noch eine der besten Livebands des Landes ein neues Album ankündigt, kann das nur ein gutes Zeichen sein. Oder?

Unabhägig davon, wie man die Entscheidung der britischen Regierung infektionsschutztechnisch sieht, muss man zugeben: Einen besseren Moment für ein neues Album hätten sich Frank Carter & The Rattlesnakes nicht aussuchen können. „Sticky“ ist die vierte Platte der Band und mit einer Laufzeit von einer knappen halben Stunde auch die kürzeste. Produziert wurde es von Gitarrist Dean Richardson während des Lockdowns. Und wer Frank Carter einmal hyperaktiv auf und um die Bühne springend erlebt hat, kann sich denken, dass der Frontmann nur auf das Ende dieses Stillstands gewartet hat. Davon handeln insbesondere die beiden Songs, auf denen der queere nicht-ganz-Pop-Artist Lynks zu Gast ist. Mit „Bang Bang“ und „Go Get A Tattoo“ steht der Soundtrack für die nächste Nacht, in der die Stadt unsicher gemacht wird. Ob das so eine gute Idee ist, wenn man nie wieder einen Lockdown will, wie Lynks sprechsingt, sei mal dahingestellt.

Und so groß die Freude über die Entscheidung der britischen Regierung in Lockdown-Fragen ist, so angepisst ist man über den Rest, den Boris Johnson und Co verzapfen. Deshalb fordert Frank gemeinsam mit Cassyette: „Off With His Head“. Unter dem Musikvideo zum Song stellt ein entgeisterter Fan aber fest: „this is pop“. Und hat damit absolut recht. „Sticky“ bedient sich an verschiedenen Einflüssen und poliert diese, bis glänzender Pop-Rock übrig bleibt. Diese Einflüsse sind extrem britisch: die Energie des Punk, die Melodieseligkeit von Gitarrenpop, ein im Vordergrund stehender Post-Punk-Bass, Synthies aus Madchester und Beats, die vor der Grundreinigung mal Grime gewesen sein könnten. Dass neben den hochaktuellen Feature-Gästen auch Primal-Scream-Frontmann Bobby Gillespie eingeladen wird, passt zu dieser Traditionsbildung. Und es wäre auch wirklich ein netter Mix, wenn nicht alles mit dem Glätteisen behandelt und mit gleichförmig-radiotauglichen Melodien ausgestattet worden wäre. Diese Tendenz hat sich zwar schon angekündigt, aber scheinbar sind Frank Carter & The Rattlesnakes endgültig nicht mehr aus der Pop-Rock-Ecke herauszubekommen. Dass man durchaus Massentauglichkeit und eine gewisse Edgyness unter einen Hut bringen kann, zeigen Bands wie die Idles, deren Sänger Joe Talbot auf „My Town“ übrigens auch einen Feature-Part grunzt. Einen ähnlichen Kleinstadt-Hass-Song hat seine Band mit „Model Village“ bereits im Angebot. In der Zeit, die „Sticky“ läuft, könnte man den sieben Mal hören. Und wahrscheinlich wäre das interessanter.

Fazit

4.6
Wertung

Als Fazit zitiere ich den Kommentar von BrokenFaced Clown auf Youtube: „I miss hardcore frank. Use naughty words to act heavy all you want frank but this is pop“

Steffen Schindler
7
Wertung

Ja, „Sticky“ ist poppiger als die Vorgänger und hat sicherlich einige Erwartungen enttäuscht – aber Menschen, die auf eingängigen britischen Alternative-Pop (ist das eigentlich ein Widerspruch in sich?) à la Yungblud stehen, finden an diesem Album auf jeden Fall gefallen. Rauer, gesellschaftskritischer Punkrock ist jedenfalls kein Genreprädikat für das Album – aber muss das wirklich immer erreicht werden und die Kernzielgruppe nie erweitert oder verändert werden? Die Kritik vieler Fans erinnert mich ehrlich gesagt ein bisschen an Metal-Elitisten. Und „Sticky“ sind auf jeden Fall die Melodien, die im Hinterkopf als Ohrwurm kleben bleiben.

Jannika Hoberg